

Musiklieferdienst in Frankfurt am Main Hallo? Ein Konzert bitte, Westendstraße 25, 3. Stock
Ein Mann in Jeans und T-Shirt öffnet erwartungsvoll seine Wohnungstür. Davor wird gerade ein arabisch-andalusisches Volkslied gespielt. Wie die anderen Hausbewohner hat er am Hauseingang den Aushang gesehen, dass hier heute ein Livekonzert stattfindet. Im ganzen Treppenhaus stehen Menschen vor ihren Wohnungen und lauschen dem Konzert der Kontrabassistin Nicola Vock und der Flötistin Johanna-Leonore Dahlhoff.
Sehen und hören Sie selbst:
»Musiklieferdienst« nennt sich das Angebot der Kammerphilharmonie Frankfurt, den Mehrfamilienhäuser sich Sonntagsnachmittags nach Hause bestellen können. In verschiedenen Stadtteilen Frankfurts treten die Musiker zu zweit oder dritt auf und bringen Musik zu Menschen, die diese aufgrund der Pandemie oft ein ganzes Jahr lang nicht live erleben konnten.
»Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Livemusik gehört habe«, sagt Yvonne Gornik, die im ersten Stock wohnt und die Musiker bestellt hat, nachdem sie sie auf Instagram entdeckt hatte. Sie filmt das Konzert mit ihrem Handy, während ihr Mann das gemeinsame Baby hält, das von der Musik wach geworden ist. Die anderen Zuschauer sind im engen Treppenhaus nicht sichtbar, doch am Ende schallt Applaus bis zu den Musikerinnen hinunter, die im Erdgeschoss gespielt haben.
»Es war wunderschön, mal wieder live Musik zu hören und es tut gut die Musiker zu unterstützen«, sagt Gornik. Das Konzert ist kostenlos, doch die Nachbarn haben untereinander Geld gesammelt, das sie dem Duo zum Abschied in einem Umschlag in die Hand drücken. Diese freuen sich, denn obwohl die Konzertreihe vom Kulturamt Frankfurt finanziell unterstützt wird, leiden sie wie viele Musiker finanziell unter den vielen ausgefallenen Engagements.

Musiker der Kammerphilharmonie in einem Frankfurter Treppenhaus: Nachbarn haben untereinander Geld gesammelt
Foto: Johannes Berger»Als zu Beginn der Pandemie alles abgesagt wurde, oft ohne Ausfallhonorare, habe ich mich gefragt, wieso ich diesen Beruf überhaupt ausübe. Seit wir wieder live spielen, weiß ich es wieder«, sagt Nicola Vock. Sie spielt nicht nur selbst Kontrabass, sondern ist auch Geschäftsführerin der Kammerphilharmonie und kümmert sich um das künstlerische Management. Gemeinsam mit ihrer Kollegin, der Cellistin Sylvia Demgenski, hatte sie im vergangenen Herbst die Idee zu den Treppenhauskonzerten. Zuvor im Sommer spielten die Mitglieder des 26-köpfigen Orchesters bereits draußen in ganz Frankfurt »Nachbarschaftsmusik« . »Wir haben uns von Anfang der Pandemie an überlegt, wie wir live bleiben können«, sagt Vock.
Damit ist die Kammerphilharmonie nicht allein. Ebenfalls in Treppenhäusern musizierte bereits im März 2020 das Frankfurter »Jerusalem-Duo« . Das musikalische Paar, das zuvor eine internationale Karriere begonnen hatte, trat zuerst spontan im eigenen Treppenhaus und dann in Häusern in ganz Deutschland auf. Dabei spielte es volle 45-minütige Konzerte mit einem bunt gemischten Repertoire aus Klezmer-Musik, Pop und Klassik. Auch in München soll es laut Nicola Vock ähnliche Konzerte in Häusern geben.
»Ein Livestream ist nicht mit einem Livekonzert vergleichbar. Beim Stream fehlt die Energie des Publikums, am Ende klatscht niemand und die Musiker fühlen sich verloren. Es ist trostlos«, sagt Flötistin Dahlhoff. Seit der Pandemie empfindet sie das Live-Erlebnis noch intensiver, da bei den Treppenhauskonzerten eine größere Nähe zum Publikum entsteht. »Manche sind sprachlos vor Rührung, eine Frau, für die unser Auftritt eine Geburtstagsüberraschung war, fing an zu weinen. Viele schreiben uns danach, was die Musik mit ihnen gemacht hat«, erzählt Dahlhoff. Ein Livestream sei außerdem für viele freischaffende Musiker eine teure Angelegenheit. Nicht jeder hätte das nötige Equipment.
Nicola Vock
Nicola Vock isst eine Banane und rollt nebenher ihren riesigen Kontrabass über die Frankfurter Kennedyallee zum nächsten Konzert. Ihre Kollegin hat es da mit der Flöte leichter. Nur zehn Minuten geht ein Mini-Konzert, dann zieht das Duo weiter, um an diesem Nachmittag in knapp drei Stunden insgesamt sechs Hausflure zu bespielen. In den Stadtteilen Westend und Höchst musizieren parallel andere Mitglieder der Kammerphilharmonie, so groß ist die Nachfrage. Insgesamt 200 Konzerte haben die Orchester-Mitglieder und befreundete Musiker bereits in Treppenhäusern gegeben. Die Termine sind lange im Voraus ausgebucht.
Daher freut sich die nächste Hausgemeinschaft umso mehr, dass ein Termin heute kurzfristig abgesagt wurde und sie von der Warteliste aufrutschen konnten. »Musiklieferdienst!«, rufen die Musikerinnen an der Haustür und werden von einigen Bewohnern in den Hinterhof geleitet, denn es ist an diesem Sonntag warm genug, um draußen zu spielen. Dort sitzen und stehen überwiegend junge Familien mit kleinen Kindern. Es wird Sekt, Kaffee und Kuchen verteilt und es fühlt sich fast wie ein normales Nachbarschaftsfest an, außer dass alle Maske tragen und Abstand halten.
Vock und Dahlhoff lehnen den Sekt dankend ab. Sie haben bei ihrem straffen Programm keine Zeit zu verlieren und platzieren sich auf der Mitte des Rasens. Wieder spielen sie zuerst das Volkslied, dann »La Cumparsita« von Gerardo Matos Rodriguez und zuletzt den Walzer Nr. 2 aus der Suite Nr. 2 für Jazz-Orchester von Schostakowitsch. Auf den Balkonen stehen Menschen und applaudieren. Ein kleiner Junge schreit: »Ich will auch Cello spielen«. Hausbewohnerin Ulrike Sedlak, die die Musiker bestellt hat, findet zwar, dass das Konzert etwas kurz war, begeistert ist sie aber trotzdem: »Vor einem Jahr waren alle so übersättigt, da hätte ich gar nicht gewusst, wie viele Nachbarn zusagen werden, aber jetzt freut man sich ja über jede Abwechslung, und selbst die Kinder mögen klassische Musik«, sagt sie.

Musiklieferantinnen der Kammerphilharmonie Frankfurt auf dem Weg zum Auftritt: Das Publikum kommt mal in Abendgarderobe, mal in Jogginghose.
Foto:Johannes Berger
Nicht in allen Treppenhäusern und Hausfluren kommt die Livemusik so gut an, auch weil nicht immer alle Bewohner über das geplante Konzert Bescheid wissen. »Manchmal hört nur der zu, der uns bestellt hat, und die anderen machen ihre Tür nicht auf. Einmal hat jemand laute Gegenmusik angemacht«, erzählt Vock und lacht dabei. Es gefällt ihr, nicht zu wissen, was sie bei den Konzerten erwartet. »Einmal empfingen uns Bewohner in Abendgarderobe, ein anderes Mal dann wieder in Jogginghose«, sagt sie. Das sei aber auch das Tolle an diesen Konzerten, ergänzt ihre Kollegin. »Wir spielen in jedem Treppenhaus das gleiche Programm, doch es ist jedes Mal ein anderes Konzert«.
Die Kammerphilharmoniker versuchen seit Langem, schon vor Corona, die Grenze zwischen Musikern und Publikum abzuschaffen. Den Konzertgraben zwischen Musikern und Zuhörern empfinden sie als überholt und arbeiten deswegen an neuen Konzepten, um dem Publikum direkter begegnen zu können. Die Treppenhauskonzerte soll es deswegen möglicherweise auch nach der Pandemie geben, obwohl sie ab April vorerst pausieren. Gespielt werden soll aber weiter. Ab April können Frankfurter sich ein 12-köpfiges Streichorchester oder ein Bläserquintett in ihre Hinterhöfe bestellen.